Gedenken an Pogrome in Hockenheim: Mahnung gegen das Vergessen
Hockenheim, 13.11.2024
In einer Gedenkveranstaltung wird an die Geschehnisse des Pogroms und die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert. Betont wird die Verantwortung, sich aktiv gegen Antisemitismus und Ausgrenzung zu stellen.
86 Jahre ist es her, dass in Hockenheim und ganz Deutschland in der Nacht des 9. November Synagogen geplündert und in Brand gesteckt wurden. Am 22. Oktober 1940 wurden unzählige jüdische Mitbürger mit Zügen der Deutschen Reichsbahn ab Mannheim nach Frankreich ins Internierungslager Gurs verschleppt und im Sommer 1942 von dort aus in Viehwaggons ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.
Bei einer Gedenkveranstaltung unter dem Leitgedanken „Erinnern – Gedenken – Versöhnen“ erinnerten rund 60 Hockenheimer am Samstagabend in der evangelischen Stadtkirche an die Jüdinnen und Juden, die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden. Eingeladen hatte der Arbeitskreis jüdische Geschichte und die christlichen Kirchen in Zusammenarbeit mit der Stadt und dem Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium. Gedacht wurde auch des Überfalls der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober vergangenen Jahres.
Das Bläserensemble des Gauß-Gymnasiums unter der Leitung von Bernhard Sommer eröffnete den Gottesdienst mit dem Lied „Dos Kelbl“. Die Geschehnisse lägen zwei Generationen zurück, begrüßte Pfarrer Michael Dahlinger zu dem Pogrom-Gedenken: „Heute Abend wird es gegenwärtig, was den Juden damals von Deutschland aus angetan wurde.“ Anschließend spielte das Bläserensemble das Stück „Achas Shoalti“.
Hockenheim setzt bei Gedenken Zeichen gegen Antisemitismus
Jochen Vetter, der Vertreter des Oberbürgermeisters, hieß alle willkommen, die sich an diesem Abend dem Gedenkweg anschließen wollten. Damit werde ein klares Zeichen in die Stadtgesellschaft und darüber hinaus gesendet: „Nie wieder!“. Er appellierte, Haltung gegen Antisemitismus zu zeigen, „und dass es uns nicht kalt lässt, was Menschen einander angetan haben und auch in anderer Form heute noch einander antun“.
„Weil wir immer noch nicht verstehen können, was Menschen zu diesem grausamen Genozid veranlasst hat“, müsse man sich gemeinsam erinnern. Auch die in Hockenheim verlegten Stolpersteine mit den eingravierten Namen sollten helfen, nicht zu vergessen. Es sei eine wichtige Aufgabe, „uns aktiv gegen jede Ausgrenzung und vor allem gegen Antisemitismus zu stellen“.
Nun gehe es darum, das Versprechen einzulösen, das in den Jahrzehnten nach 1945 immer wieder gegeben wurde: „Nie wieder!“ Keine Herkunft, keine politische Überzeugung, kein kultureller Hintergrund könne als Begründung herhalten, die Ermordungen wie vor einem Jahr im Nahen Osten geschehen und das grausame Abschlachten Unschuldiger zu feiern. Es gehe darum, „das Geschehene nicht einfach Geschichte sein zu lassen, sondern die Erinnerung wachzuhalten, und zwar in dem Sinne, dass daraus eine Verantwortung für Gegenwart und Zukunft erwächst“, wandte sich Vetter mit dem hebräischen Gruß „Shalom Aleichem“ (Friede sei mit Euch) an die Gemeinde.
Stolpersteine in Hockenheim zeigen Geschichte der Juden
Klaus Brandenburger vom Arbeitskreis jüdische Geschichte wies auf die Stolpersteine in Hockenheim hin. Auf denen steht unter anderem „gedemütigt“, „entrechtet“, „deportiert“, „interniert“, „Flucht“, „unfreiwillig verzogen“, „Schutzhaft“ und „ermordet“. Die Stolperschwelle vor der Treppe zur katholischen Kirche St. Georg trägt die Worte: „Großfamilie Isaak Hockenheimer, seit 1933 gedemütigt, entrechtet, enteignet, verfolgt, geflohen, deportiert und ermordet in deutschen Konzentrationslagern. Mehr als 50 Menschen wurden Opfer.“
Die Schülerinnen Anna-Lina Engelmann, Sophie Weis, Lara Kubach und Jule Vormstein aus der Geschichtsklasse von Claus Ebner erinnerten mit Kurzbiografien an die Familien Fleischhacker und Baumgarten und an die Menschen, die damals Geschäfte betrieben und Mitglieder in Vereinen waren.
Pogromgedenken in Kirche in Hockenheim: An die Geschichte erinnern
Regina Fleischhacker wurde 1882 geboren. In der Schwetzinger Straße führte sie ein Kolonialwarengeschäft. Aus erster Ehe mit Samuel Fleischhacker hatte sie vier Kinder: Fanny, Erna, Herbert und Gerda. Nach Samuels Tod heiratete sie den Kaufmann Ludwig Baumgarten. Aus dieser Ehe gingen Ingeborg und Horst hervor. Fanny wurde von den Nationalsozialisten in Auschwitz-Birkenau ermordet. Herbert musste 1944 in Karlsruhe untertauchen. Nach dem Krieg wurde er Geschäftsführer in der Zigarrenfabrik.
Gerda lebte nach ihrer Heirat mit Ludwig Kaufmann in Heidelberg. Das Paar wurde nach Gurs verschleppt und nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Horst konnte 1939 gerade noch nach England auswandern, dort arbeitete bereits seine Halbschwester Erna als Hausangestellte. Regina sah ihre Kinder nie wieder.
Rosa Baumgarten, geborene Durlacher, Ludwig und Ingeborg Baumgarten wurden von Gurs nach Ausschwitz-Birkenau deportiert, wo sie in der Gaskammer starben. Die Schülerinnen zeigten Bilder und Postkarten von den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern und vom Kolonialwarenladen sowie dem Haus in der Hirschstraße an der Ecke zur Schwetzinger Straße.
„Erinnern, Gedenken und Mahnen“ bei Veranstaltung in Hockenheim
Am 1. Januar 1938 wurden noch 35 jüdische Einwohner in Hockenheim gezählt, am 1. Januar 1939 noch 27, unmittelbar vor der Deportation nach Gurs im Oktober 1940 noch sieben. Nach dem Synagogenbrand feierten die Nationalsozialisten ausgelassen ihren Erfolg im Sturmlokal „Zum Badischen Hof“ in der Adolf-Hitler-Straße. Im Sommer 1942 begannen die Deportationen von Gurs aus über das Sammellager Drancy in die deutschen Vernichtungslager im Osten.
Ein Moment der Stille leitete über zum Gebet von Priester Steffen Haubner von der Neuapostolischen Kirche. Man müsse an die schrecklichen Ereignisse des 9. November 1938 erinnern, um so der Versuchung zu widerstehen, die Opfer des Wahns der Nationalsozialisten zu vergessen. „Erinnern, Gedenken und Mahnen“ müssten einen würdevollen Raum bekommen. „Christlicher Glaube und rassistisches Denken und Handeln schließen sich aus“, meinte Haubner.
Geiseln im Nahost-Krieg als Thema bei Gedenken in Hockenheim
Alexander Münkel spielte am Klavier den zweiten Satz aus der Sonate Nr. 50 D-Dur von Joseph Haydn. Pfarrer Michael Dahlinger ging auf den Terrorangriff der Hamas vor einem Jahr ein und auf die Menschen, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens heute in einer Verfolgungssituation sind. Er präsentierte ein Porträt aus einem Artikel der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom Oktober dieses Jahres, in dem Angehörige der israelischen Geiseln zu Wort kommen.
Darin verzeiht Iris Haim den israelischen Soldaten, die ihren Sohn Yotam irrtümlich erschossen. Der 28-Jährige war am 7. Oktober von Hamas-Terroristen in den Gazastreifen entführt worden. Als er nach 65 Tagen Gefangenschaft aus dem Tunnel fliehen konnte, hielten die Soldaten den jungen Mann und zwei weitere israelische Geiseln für eine Bedrohung. Sie gebe niemandem die Schuld, meint Iris Haim und fordert dazu auf, „einen Moment innezuhalten“. Sie würde die Soldaten nicht verurteilen.
Auschwitz-Überlebende in Kirche in Hockenheim zitiert
Dahlinger sprach den Abendsegen mit dem „Schma (Nachtgebet) vor dem Schlafengehen“ – auf Hebräisch und auf Deutsch. Das Programmblatt war mit einigen Zitaten versehen. „Ihr habt es in der Hand, dass das nicht wieder passiert“, sagte Margot Friedländer am Holocaustgedenktag am 27. Januar im Deutschen Bundestag. „Das ist das Schwierige in dieser Zeit: Ideale, Träume, schöne Erwartungen kommen nicht auf oder sie werden von der grauenhaftesten Wirklichkeit getroffen und vollständig zerstört. Es ist ein Wunder, dass ich nicht alle Erwartungen aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unausführbar. Trotzdem halte ich an ihnen fest, trotz allem, weil ich noch immer an das innere Gute im Menschen glaube“, steht im Tagebuch der Anne Frank, die im Alter von 15 Jahren im Februar 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen starb. „Wenn Hass und Verleumdung leise keimen, dann, schon dann heißt es wach und bereit zu sein. Das ist das Vermächtnis derer von Auschwitz“, sagt die Überlebende Lucie Adelsberger.
Das Bläserensemble des Gauß-Gymnasiums brachte der Gemeinde das Lied „Shalom chaverim“ zu Gehör. Mit dem gemeinsam gesungenen „Hevenu Shalom Alechem“ (Wir wollen Frieden für alle) endete die Gedenkfeier. Dieses Mal fand der Abschluss nicht am Gurs-Gedenkstein am Parkplatz zwischen Rathaus und katholischer Kirche statt, weil dort derzeit eine Baustelle ist. Hier stand einst die Synagoge. In der Nacht zum 10. November 1938 schlugen SA-Männer die Fenster ein und brannten das Gebetshaus, das Herz jüdischen Lebens in Hockenheim, bis auf die Grundmauern nieder.
Text: Volker Widdrat, Schwetzinger Zeitung
Foto: Schwetzinger Zeitung